Süddeutsche Zeitung FEUILLETON Montag, 28. Juni 1999

Sieg der Silbenschlucker

In England verändert sich die Sprache – und die Fetzen fliegen

Nato-Sprecher Jamie Shea tut es. Bühnenautor Ben Elton tut es. Premier Tony Blair tut es. Am liebsten in Talkshows. Sogar Prinzessin Diana Spencer hat es getan. Überhaupt tun es immer mehr Engländer. Vor allem die jüngeren. Und deshalb stehen ein paar besorgte Bürger wieder einmal da, wo sich jeder Brite erst so richtig wohlfühlt: allein gegen den Rest der Welt. Und so ziehen sie ins Feld für das Überleben dessen, was die englische Klassengesellschaft seit Menschengedenken so übersichtlich strukturiert: die richtige Aussprache des britischen Englisch. Denn wo bitte soll es hinführen, wenn das gesamte Volk bald lieber „ba’a“ sagt statt „butter“? „Chewsday“ statt „Tuesday“? „Wo’a“ statt “water“?

Der konservative Militärexperte John Keegan, 65, klagte im Daily Telegraph, Jamie Shea höre sich an wie „der Manager eines Fußballclubs in der Drittliga“. Die Schriftstellerin Beryl Bainbridge, 64, forderte zwingenden Sprechunterricht für jedes Kind, um regionale Dialekte endgültig „auszurotten“. Die Schauspielerin Prunella Scales, 66, will ein Archiv des vornehmen posh-English einrichten, damit es den nächsten Generationen nicht verlorengeht. Sie machen sich vor allem Sorgen um jenen Akzent, den man in England RP (received pronunciation) nennt, sowie seine Unterformen Oxford-, BBC- und Queen’s English.

An dieser fatalen Situation ist diesmal allerdings nicht der Kontinent schuld – es sind die Engländer selbst, die so uneinsichtig an ihren Dialekten festhalten oder, noch schlimmer, sich einen Akzent angewöhnen, der RP in den letzten Jahren den Rang streitig macht: Estuary English, benannt nach dem „Estuary“, der Mündung der Themse. Was gleichbedeutend ist mit London, woher auch Jamie Shea kommt und mit ihm alles Neumodische. Er klingt, meinen seine Gegner, schlampig und vulgär. Doch das Schlimmste ist, daß seine Wurzeln in Cockney liegen, dem Slang der Londoner Unterschicht, einem Dialekt, der traditionell ganz tief steht auf der Skala der Sprache.

Der richtige Akzent

Die Briten sind seit jeher besessen von ihren Akzenten, Dialekten und deren Bedeutung. George Bernard Shaw erklärte 1912 im Vorwort zu „Pygmalion“: „Für einen Engländer ist es unmöglich, den Mund aufzumachen, ohne daß ihn ein anderer Engländer verachtet.“ Anders als in Frankreich gibt es keine Institution wie die Académie Française, die dem Volk eine offizielle Sprachregelung vorschreibt. Was bedeutet, daß sich jeder in die Diskussion einmischen kann – und es auch liebend gern macht. So kommt es alle paar Jahre zu neuen Auseinandersetzungen darüber, wie Englisch richtig ausgesprochen wird. Jedesmal weisen die Linguisten darauf hin, daß der grammatikalisch richtige Standard nur mit der Schreibweise und nichts mit dem gesprochenen Akzent zu tun hat. Immer wieder betonen sie, daß jeder Dialekt gleichwertig sei. Nur hört anscheinend kaum einer auf sie.

Denn der Streit zwischen Verfechtern des RP und Estuary ist weit mehr als ein Gerangel um Ästhetik. In jeder Sprache spiegeln sich die Herrschaftsverhältnisse wieder, und in kaum einem anderen europäischen Land zeigt sich das so deutlich wie in England. Ein Akzent verweist hier nicht nur auf die geographische Herkunft, sondern auch auf die soziale Schicht. Wer „hice“ statt „house“ sagt, oder überhaupt jedes zweite Wort mit einem langen „ah“ ausstattet, der rückt damit in die Nachbarschaft der Queen (wobei respektlose Anti-Royalisten gern einwerfen, das königliche Englisch sei nichts anderes als eine versteckte deutsche Intonation). Wer RP spricht, macht sich damit zum Teil der Elite.

Doch auch wenn es deren Vertreter gerne glauben machen möchten – das war nicht immer so. Vor ein paar hundert Jahren war RP nichts anderes als der Akzent der Hauptstadt und der Grafschaften der Umgebung. Zum upper-class-Standard wurde er vor allem durch die Public Schools, den Kaderschmieden des britischen Empire wie Eton und Harrow. Dort wurden die Söhne der Oberschicht darauf abgerichtet, einen gottverlassenen Winkel des Weltreichs zu regieren. Sport, Fair Play und ein einheitliches Englisch wurden zu Symbolen einer weltweit herrschenden Klasse. Sie „stammte von nirgendwo im besonderen, und suggerierte damit, daß sie von überall im allgemeinen komme,“ lästerte der britische Journalist Neil Ascherson einmal.

Ironischerweise bildete die britische Elite den Gegenentwurf zu jener anderen „universalen Klasse“ des marxistischen Weltbildes: dem Proletariat. Und solange die Macht der Oberschicht real existierte, mußte jeder hoffnungsvolle Aufsteiger seinen regionalen Dialekt schnellstens vergessen und sich der Diktatur des RP unterwerfen.

Die Tage des Empire sind lange vorbei, und der Einfluß der alten Eliten schwindet. Da wird sprachlicher Snobismus schnell albern. Mit Margaret Thatcher, die noch als Premierministerin Sprechunterricht nahm, um ihre kleinbürgerliche Herkunft zu vertuschen, begann der Aufstieg des Estuary. Die Boys der Thatcher-Ära, die champagnertrinkenden Trader der Londoner City und die neureichen Manager aus Essex brachten den Slang des Eastend mit in die Etagen der Mächtigen. Maggies Enkel, die hausbesetzenden Studenten und jugendlichen Tramps, untermauerten ihre Ablehnung des übersteigerten Materialismus der achtziger Jahre mit Ausdrücken der working class. Inzwischen plaudern selbst die reichen Kids der Westlondoner Nobelgegenden um den Sloane Square im sanft proletarischen Zungenschlag des Estuary: „Wicked, innit?“

Ein ausgeprägter upper-class-Akzent kann inzwischen sogar hinderlich sein, wie ein Eton-Absolvent erfahren mußte. Selbst die konservativen Tories, so lauten die Gerüchte, wollen Jacob Rees-Mogg nicht als Politiker, weil seine vornehme Aussprache so anachronistisch ist. Das affektierte Näseln der Oberschicht ist uncool geworden in London, es klingt feminin und irgendwie „sissy“. In der kosmopolitischen Hauptstadt ist die Auflösung der Klassengesellschaft am weitesten fortgeschritten; hier werden neue Sprachen getestet, definieren sich Subkulturen mit immer anderen Codes und Begriffen. Was London überlebt, breitet sich irgendwann über den Rest des Landes aus. Das war bei RP nicht anders. Und was ist so schlecht daran, wenn man inzwischen das freundliche „mate“ dem formellen “friend“ oder dem staubigen „old chap“ vorzieht?

Doch hat die Sprache der Spice Girls und Fußballer noch lange nicht ganz England für sich eingenommen, genausowenig wie die Vorurteile gegen regionale Dialekte verschwunden sind. Denn tief im Unterbewußtsein der Engländer schlummert die alte Überheblichkeit der Stadt (urban, modern, intellektuell) gegen das Land (bäuerlich, primitiv, langsam), des Südens gegen den Norden und seine verdreckten Industriestädte. Das Scouse aus Liverpool wird mit Verschlagenheit assoziiert, Cockney mit Aggressivität. Und die bemitleidenswerten „Brummies“ aus Birmingham gelten nicht nur als ein bißchen doof, sondern wurden laut einer psychologischen Studie von 1997 zweimal so häufig wie andere Engländer für schuldig gehalten, ein Verbrechen begangen zu haben.

Immerhin hat die British Broadcasting Corporation, seit Jahrzehnten inoffizielle Hüterin einer ordentlichen Aussprache, schon vor einigen Jahren ihre Politik geändert. Inzwischen wird das feine RP eigentlich nur noch bei Begräbnissen und Nachrichten eingesetzt. Moderatoren und Sprecher müssen sich nicht mehr mühevoll ihren Dialekt abtrainieren. Und die Stellenanzeigen der Zeitungen verlangen nicht mehr ausdrücklich den „richtigen“ Akzent. Überhaupt, rufen die Linguisten dazwischen, sei Estuary sowieso nur die natürliche Fortentwicklung des RP, seine demokratisierte klassenlose Version sozusagen. Klarheit des Ausdrucks hängt nicht vom Akzent ab. Was auch Winston Churchill wußte, der auf den Einwand eines Sprachfundamentalisten antwortete: „That is language up with which I will not put.“

Armes England. Es scheint manchmal ganz zu verdrängen, daß es jenseits des Ozeans eine mächtige Ex-Kolonie gibt, in der eine ähnliche Sprache gesprochen wird. Und britische Kids sind davon genauso fasziniert wie die Kids der restlichen Welt.

PETRA STEINBERGER


Kommentar von Carsten Hüttermann:

Petra Steinbergers "Sieg der Silbenschlucker" ist der erste deutsche Zeitungsartikel zum Thema Estuary English. Sie stellt das englische Akzentbewußtsein als Spiegel einer unterschwellig vorhandenen Klassengesellschaft recht gut dar. Der Aufstieg des klassenlosen Estuary English Akzentes wird von Petra Steinberger als linguistisches Zeichen einer sich im Fall befindlichen Klassengesellschaft gedeutet. Leider geht die Journalistin nicht auf die Unterschiede zwischen dem Akzent Estuary English und dem Dialekt des Cockney ein. Dieses wird besonders an ihren Beispielen "ba'a" und "wo'a" deutlich, die sie fälschlicherweise als Aussprachemerkmale des Estuary English bezeichnet, obwohl das Merkmal der intervokalischen Glottalisierung zum Cockney gehört.

Petra Steinberger verwechselt auch die Begriffe Oxford English, BBC English und Queen's English, die sie als Unterformen der RP bezeichnet. BBC English und Oxford English sind hingegen nur verschiedene Begriffe für den Akzent der RP, während das Queen's English die konservativste Varietät der RP ist, die auch als Hyperlekt bezeichnet wird. Des weiteren beendet sie ihr Fazit mit einer Anspielung auf das nicht klassenbewußte Englisch der USA, das nicht im Zusammenhang mit Estuary English und dem Inhalt ihres Artikels steht.

Comments by Carsten Hüttermann:

Petra Steinberger's "Sieg der Silbenschlucker" is the first German newspaper article about Estuary English. She presents the English accent-consciousness as a reflection of a subliminal class society very well. Petra Steinberger interprets the rise of the classless Estuary English accent as a linguistic sign of a falling class society. Unfortunately, the journalist does not explain the differences between the Estuary English accent and the Cockney dialect. This becomes especially apparent through her examples "ba'a" and "wo'a" which she wrongly regards as pronunciation features of Estuary English though intervocalic glottal stopping is a feature of Cockney.

Petra Steinberger also confuses the terms Oxford English, BBC English and Queen's English, which are presented as subordinated forms of RP. BBC English and Oxford English, however, are just different terms for the RP accent whereas Queen's English is the most conservative variety of RP, which is also known as the hyperlect. Furthermore, she ends her conclusion with an allusion to the non class-conscious English of the US that is incoherent with Estuary English and the content of her article.


Placed on the web 1999 06 29. Comments added 1999 07 09

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